Die Welt ist am Ende
Predigt zu Johannes 19
Liebe Gemeinde,
Christinnen und Christen sind Optimistinnen und Optimisten. Manchmal vielleicht auch Zweckoptimisten, um die Hoffnung hochzuhalten und durchzuhalten.
Karfreitag ist für mich der Tag, an dem wir auch schonungslos und gnadenlos auf unser Leben und diese Welt blicken dürfen. Denn nur dann wird deutlich, warum und wozu Gott in Jesus Christus an diesem Tag gehandelt hat.
Den Grund für Karfreitag kann ich an diesem Tag deutlich wiederholen. Auch wenn Menschen das in den letzten 2000 Jahren immer wieder wiederholen konnten:
Diese Welt ist am Ende.
Nicht zeitlich - vermutlich wird diese Welt noch einige Tausend Jahre weiter existieren. Aber die Frage ist, ob wir dabei noch vorkommen. Ob es nicht das Ende von Menschheit und von Menschlichkeit ist.
Ich möchte Ihnen nicht die Nachrichten vorlesen, davon haben wir alle vermutlich genug zuhause. Aber ein paar Blicke in diese Welt, die mir zeigen, wie sehr diese Welt am Ende ist. Heute mindestens so wie vor 2000 Jahren.
Der Rheinpegel steigt wieder. Er liegt aktuell bei 2,48m. Noch vor wenigen Tagen lag er bei gut 2,30m. Auch die Elbe hat Niedrigwasser. Vor allem an der Elbe gibt es sogenannte Hungersteine. Steine im Flusslauf, die erst bei extremem Niedrigwasser sichtbar werden. Auf einem Stein bei Tetschen im ehemaligen Böhmen steht: "Wenn du mich siehst, dann weine." 1904 wurde dieser Stein entdeckt, eine Zeit, in der Menschen bewusst war, was mit der Natur passiert, wenn wir so wenig Wasser haben wie heute. Diese Steine sind dieses Jahr wieder zu sehen. Sie sind nur ein Zeichen der Klimakatastrophe, die derzeit ungehindert auf uns zurollt. Wir haben den Klimawandel so weit getrieben, dass ganze Inselstaaten vom Untergang bedroht sind.
Damit wir die Folgen des Klimawandels nicht selbst tragen müssen, haben wir uns in Europa nach 2017 entschieden unsere Grenzen zu schließen. Europa, nicht die USA, haben die tödlichste Außengrenze der Welt. Wir lassen Menschen weiterhin lieber an diesen Grenzen sterben als dass wir sie auf unseren Grund und Boden lassen. Grund und Boden, den Gott geschaffen hat, den wir von ihm geschenkt bekommen haben und nicht uns selbst verdanken.
Über die Zustände in manchen Flüchtlingslagern bei uns haben wir hier schon häufiger berichtet. Meiner Kenntnis nach haben wir sie bisher nicht im Ausland, aber davon war die Rede. In Libyen gibt es solche Lager, in denen Menschen untergebracht werden, die nicht nach Europa sollen. Zwangsweise. Lager, in denen Menschen zwangsweise, nicht leben, sondern leiden. In den USA werden sie jetzt eingerichtet. Und es schaudert beim Aussprechen, aber wir müssen sie als das benennen, was sie sind: Konzentrationslager. Der wesentliche Unterschied zwischen einem Konzentrationslager und einem Gefängnis ist, dass die Überführung ins Gefängnis aufgrund eines rechtmäßigen Urteils erfolgt.
2021 haben wir Afghanistan, seine Frauen und Kinder, alle, die mit westlich Werten erzogen wurde, auf eine Demokratie hofften, schutzlos den Taliban überlassen. Und wenn jetzt einige wenige vor ihren Fängen gerettet werden und Flugzeuge hier landen, dann regt sich Empörung selbst unter CDU-Politikern. Unsere Welt ist am Ende.
80 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs sehen wir uns mit der hässlichen Fratze der Menschheit so konfrontiert, dass einem schlecht wird, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt. Wenn man nicht blind christliche Hoffnung und Zweckoptimismus hochhält.
Ich kann das Grauen im Gesicht meines Großvaters noch sehen, wenn er davon erzählte, wie er als deutscher Soldat Menschen erschießen musste, weil er selbst nicht erschossen werden wollte. Wie ihn sein Gewissen quälte und die Bilder in seinem Kopf, die er nicht mehr los wurde. Wie neben ihm Kameraden erschossen wurden, vorne ein Loch von 1,5cm und hinten von 20cm. Und er froh war, wenn sie wenigstens noch Gelegenheit hatten sie zu beerdigen.
Und heute soll das alles ein Vogelschiss der Geschichte sein, wie der AfD-Mann Alexander Gauland bekanntlich sagte. Heute sitzt er für das Bundesland Sachsen wieder im Bundestag.
80 Jahre nach Kriegsende hält Marina Weisband, sie ist mein Jahrgang, eine Rede zum 80. Befreiungstag des KZ Buchenwald. Und sie spricht davon, dass für die Demokratie und gegen den Faschismus kein Kampf, kein Krieg dieser Welt hilft. Es hilft nur die Liebe.
Sie sagte: "Wir müssen Demokratie nicht einfach nur verteidigen, wir müssen sie ausbauen! Jeden einzelnen Menschen darin als wertvollen Experten anerkennen, als gebraucht und bereichernd. Und wie passt das dazu, Nazis zu bekämpfen?
Ganz einfach. Ich liebe meinen Nächsten. Und wenn jemand ihn angreift, werde ich zur unüberwindbaren Mauer. Mein Großvater hat mit der Waffe dafür gekämpft, die Konzentrationslager zu befreien. Und ich würde das im Zweifel auch tun. Aber ich will es nicht so weit kommen lassen. Menschen will ich mein Herz weit öffnen. Aber ich stehe zwischen ihnen und menschenverachtendem Gedankengut."
Ihr Großvater stammt aus der Ukraine. Er war Jude. Sie selbst ist Jüdin. Was sie da vorträgt sind die Werte einer Jüdin, die ihre jüdische Bibel, die Tora, kennt: "Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR." 3. Mose 19,18
Es sind die Worte, die der Jude und Rabbi Jesus zusammengefasst hat zum Doppelgebot der Liebe, gemeinsam mit jenem Wort 5. Mose 6,4-5: "Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. 5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft."
Als er am Kreuz stirbt, da erzählt der Evangelist Johannes, dass er den Essig-Schwamm auf einem Ysop-Bund gereicht bekommt. Der Ausleger Jörg Frey schreibt: "Ysop ist kein Holz, aus dem Stangen gefertigt werden, wie das „Rohr“ (κάλαμος) in Mk 15,36, sondern ein Busch, dessen Zweige im AT als ‚Pinsel‘ zur Besprengung in Entsündigungsriten (Lev 14; Num 19; vgl. Ps 51,9) verwendet werden."
Ein Reinigungs-, ein Entsündigungsritus am Kreuz. Die Welt ist am Ende. Gott macht das Ende der Welt zu seinem Ende. Da hängt er und das Ende der Welt ist am Ende.
Wenn wir nachher in der Lesung aus dem Johannesevangelium hören, wie Jesus seiner Mutter einen neuen Sohn zuweist, dann ist das nicht nur familiäre Fürsorge. Natürlich ist es das auch. Es ist erzählte Fürsorge, reine Liebe von dem, der am Kreuz hängt.
Aber es ist noch viel mehr. Es ist erzählter Wechsel. Johannes erzählt in dieser Szene, wie der Lieblingsjünger Sohn von Jesus' Mutter wird, an seiner Stelle. Und: Wie Jesus für ihn am Kreuz hängt, an der Stelle des Lieblingsjüngers. An der Stelle der Welt, die am Ende ist. –
Es ist das, was Luther später "einen fröhlichen Wechsel" genannt hat. –
Karfreitag ist aber der Tag, um nicht zu schnell fröhlich zu werden. Nicht zu schnell zu Zweckoptimistinnen und Zweckoptimisten zu werden, so sehr wir das brauchen in dieser Welt.
Sondern wenn wir nach der Lesung in Stille aus der Kirche gehen. Dann lasst uns das für zwei Tage aushalten: Ohne ihn wäre diese Welt unser Ende, wir wären von Gott verlassen. Aber wir sind nicht ohne ihn. Und es ist nicht unser Ende. Denn er hat das Ende der Welt zu seinem eigenen gemacht. Amen.